Presse 2019
Göttinger Kulturkalender Juli 2019
Zum Anfang der Schluss
Einen
Klavierabend mit Ludwig van Beethovens letzter Klaviersonate zu beginnen: Muss
man nicht tun, kann man aber. Cunmo Yin, Jahrgang 1993 - derzeit Student bei
Gerrit Zitterbart an der Musikhochschule in Hannover, hat sich zu diesem
unorthodoxen Auftakt entschlossen. Üblicherweise endet ein Rezital mit „op.
111“. An diesem Abend folgen noch S. Prokofjews Sonate Nr. 7 sowie Beethovens
Klavierkonzert Nr. 1, in einer Fassung für Solo- & Orchesterklavier.
32 Sonaten für
das Klavier schrieb Beethoven; berühmt davon sind viele. Op. 111 in c-Moll hat
es bei Thomas Mann gar zu Romanehren gebracht. - ‚Beethoven hat hier nur die
obere Hälfte der Tasten verwendet, kenne ich sonst anders von ihm.‘ So ein Mann
in Begleitung seiner Mutter zu eben dieser, während der Pause. Vox populi.
Eigentlich keine schlechte Beschreibung des Schlusssatzes…. Zwei Sätze nur hat
die Sonate: Ein eher düsteres Allegro con brio, samt zugehöriger
herber Einleitung, darauffolgend die berühmte Arietta. Jene zwanzig
Minuten dauernde Variationsabfolge über eine zweimal acht Takte lange simple
Melodie in C-Dur. Die, es ist so oft geschrieben worden und dennoch wahr, das
Ende von Musik ist. Danach kommt nur noch Stille. (Selbst der Applaus stört.) -
Oder halt was anderes, der gute Beethoven hat ja auch noch etwas bis zu seinem
Tode 1827 geschrieben, nur halt keine Klaviersonaten mehr.
Neun Claviere
bietet Hausherr Zitterbart in seinem Salon zur Auswahl der Musizierenden an,
Cunmo Yin hat sich für den Bechstein-Flügel (1890) entschieden. Er kennt den
kleinen, an diesem Abend gut besuchten, Saal offensichtlich – auch die ‚richtig
lauten‘ Stellen, später bei Prokofjew, sind nie zu laut, sondern dem
Saale angemessen ‚richtig laut‘. Hier, bei op. 111, fällt zuerst einmal ins Ohr
wie er die Tempi, d.h. genauer den Grundschlag, der beiden Sätze einander
annähert. Zum zweiten hat seit langer Zeit uns niemand mehr mit einem derart
gekonnten Wechsel zwischen forte und piano, wenn diese direkt
aufeinander folgen, beglückt. Die sfz-Akzente, von Beethoven so gern
und reichlich verwendet, sitzen wie in Diamant gelasert. Die Interpretation ist
dennoch fern davon mechanische Wiedergabe dessen zu sein, was da steht. Das
erste Thema des Allegro hat vor der Fermate nicht diese winzige
Verzögerung notiert, welche Yin spielt. Sei‘s drum: Dieses Quäntchen Pause
verleiht der Stelle subtil, gleichwohl überzeugend, ein ungeahntes Maß von
Spannung. (Außerdem bleibt Yin an den entsprechenden Parallelstellen bei dieser
seiner Lesart.)
Extrem
ausgewogen werden linke und rechte Hand gespielt. Keinerlei Anflug davon, dass
rechts (=Oberstimme) eine Art von Übergewicht hätte. Im ersten, noch mehr
jedoch im zweiten, Satz begeistert zudem ungemein die Feinfühligkeit, die
Durchsichtigkeit, mit welcher er den Mittelstimmen ihren Raum gibt. Und das
Heiter-Resignative – so es existiert – der Stelle um Takt 50 herum klingt
selten derart überzeugend.
Thema und fünf
Variationen in sich steigernder Dichte (in der dritten erfindet Beethoven
nebenbei den Boogie-Woogie, so I. Strawinsky). Nach und nach lösen Linie und
Kontrapunkt in reinen Klang sich auf… Bescheuert! Musik ist immer Klang. Doch
hier… Was soll man schreiben, angesichts dieser 32-tel und Trillerklangwolken?
Den Impressionismus gab es noch nicht, doch in die Richtung geht es. Drei
Triller zugleich plus Unterstimme in den Noten? Kein Problem! Allezeit klingt
federleicht und extrem durchsichtig, was Yin spielt. Gut, wer mit 14 Jahren die
Études d‘exécution transcendante von F. Liszt auf Tonträger einspielt,
wird mit der Tücke des Materials wenig zu kämpfen haben. - Ganz wundervoll
zudem, wie er nach dem Höhepunkt zwischen Variation 4 & 5 die Spannung zu
halten vermag. Häufig sind die noch folgenden gut 50 Takte nur ein Auslaufen
für den Pianisten: Hier nicht. Die gesamten zwanzig Minuten sind Höhepunkt.
Jetzt müsste Stille sein.
Weiter mit der
Konzertroutine. Applaus. Das nächste Stück. Sergej Prokofjew (1891-1953) und
seine Klaviersonate Nr. 7 B-Dur op. 83 (1939-41). Neun Sonaten hat der
Komponist vollendet, die Nr. 6-7 tragen, da während des zweiten Weltkriegs
komponiert, den Titel „Kriegssonaten“, die Nr. 7 gar den Beinamen „Stalingrad“.
Allerdings dürften persönliche Motive, wie die Verhaftung und Exekution eines
nahen Freundes, zu Beginn der Entstehung des Werkes 1939 mehr zu den finsteren
Partien der drei Sätze beigetragen haben, als der Beiname vermuten lässt.
(Prokofjew kehrte 1936 nach langer Abwesenheit sowie einer Zeit des Pendelns
Paris-Moskau übrigens freiwillig in die Sowjetunion zurück.)
Für Prokofjew
Verhältnisse ist die Musik ungewöhnlich dissonant, dehnt die Grenzen der
Tonalität teils bis aufs Äußerste – verlässt sie aber nicht. Formal sind die
drei Sätze, in der Abfolge schnell-langsam-schnell, ganz dem Kanon der Gattung
verpflichtet. Neben der motorischen Unruhe, welche alle drei Sätze beständig
durchzieht, fällt zuerst der breite, langsame Abschnitt im Kopfsatz auf, der
das dritte Themenfeld enthält, und ganz ungewöhnlich lang sich hinzieht. Die
verschobenen Rhythmen präzise zu Gehör zu bringen, ist für den Pianisten nicht
einmal ein Hauch eines Problems.
Erster und
zweiter Satz „verstecken“ in ihrer Mitte jeweils Ausbrüche ganz ungewöhnlicher
Brutalität und Hässlichkeit. Wobei im zweiten Satz der Gegensatz zu den
Rahmenteilen, wo in gesanglicher Wonne gebadet wird, ungleich größer wirkt.
Clever, wie dieses ‚Paradies‘ zum Satzende hin, nach der Katastrophe der Mitte,
nur noch in arg verkürzter Form wiederkehren kann. Eine Zerbrechlichkeit, die
C. Yin sehr überzeugend darzustellen vermag.
Der Finalsatz beginnt
in einer Stimmung aggressiver Fröhlichkeit, welche nach und nach sich eintrübt,
schließlich in finsteren, hämmernden Akkordballungen zu Tode geprügelt wird. -
Begeisterter Applaus hiernach. - Konzertroutine ist schon eine seltsame Sache.
Nach der Pause
noch einmal Beethoven. Das Klavierkonzert Nr. 1 in C-Dur (1795-1800), hier in
der Fassung für Solo- und Orchesterklavier. Yuzhe Gu, ebenfalls Student bei
Gerrit Zitterbart, übernimmt auf dem Steinweg-Flügel von 1898 mit butterzarten
Klängen den Orchesterpart, währenddessen der (unveränderte) Solopart natürlich
Cunmo Yin zufällt. Völlig ebenbürtig musizieren die beiden miteinander.
Die Anschlüsse sind nahe an Perfektion, so manche Paarung Solo/Orchester könnte
hier lernen. Allein, nach der ersten Hälfte geht es der Dramatik des Abends wie
dem Kopfsatz des Konzertes mit der übermächtigen Kadenz aus Beethovens Feder:
Sie ist unrund. (So angetan Publikum und Rezensent von der Leistung des Abends
sind!)
Traurige
Einsicht für Progressive: Manches lässt man besser wie es ist. Rotwein zu
Fleisch, Weißwein zu Fisch und op. 111 zum Ende.
Bjørn SteinhoffGöttinger
Kulturkalender Juli 2019
Schnabels Traum
Sämtliche
Schubert-Klaviersonaten an fünf Abenden
„Bei mir langweilen sich die Leute in der
zweiten Konzerthälfte genauso wie in der ersten.“ Artur Schnabel, einer der
großen Pianisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, soll dies so oder
ähnlich anlässlich eines seiner reinen Schubertklavierabende gesagt haben. Was
hätte er sich wohl über so ein Projekt, die Aufführung sämtlicher
Klaviersonaten aus der Feder F. Schuberts, gefreut!?
Franz Schubert (1797–1828) ist
zweifelsfrei der Großmeister auf dem Feld des Kunstliedes, hat er es doch in
die Gestalt gebracht, hinter deren Qualität und Niveau seitdem niemand mehr
zurückkann. Bei den großformatigen Werken aller übrigen Gattungen, besonders
den Klaviersonaten, sah es mit der Anerkennung der Qualität, der einzigartigen
Tonsprache lange, lange Zeit anders aus. Der Schatten des Zeitgenossen
Beethovens, den dieser mit seinem Klaviersonatenopus warf, war einfach zu groß.
Und so behaupten nur einige wenige Sonaten – darunter die letzten drei, im
Todesjahr entstandenen Werke – seit dem späten zwanzigsten Jahrhundert ihren
Platz im Kernrepertoire der Klavierwelt.
Insofern trifft es sich ganz
wunderbar, dass ein Jahr nach dem Marathon mit der Aufführung sämtlicher
Beethovensonaten Gerrit Zitterbart sich mit seinen Studentinnen und Studenten
der Musikhochschule Hannover (HMTMH) dem Schubert‘schen Sonatenwerk annimmt. An
fünf Abenden erklingen alle 21 Sonaten, Fragmente inklusive. Der Hausherr
verweist gleich zu Beginn des ersten Abends auf die Einmaligkeit dieser
Veranstaltung: Es dürfte in der Tat weltweit eine der wenigen Aufführungen
dieses Zyklus sein, wenn es denn überhaupt je eine in dieser Kürze gegeben
hat. (Abgesehen von der Aufführung in Hannover selbst eine Woche zuvor, mit
eben jener Klavierklasse.)
Überhaupt Beethoven:
Vergleiche drängen sich naturgemäß auf – zu übermächtig war für den Komponisten
Schubert das Vorbild des fast dreißig Jahre älteren Kollegen, der, nur ein paar
Straßenzüge entfernt, fortwährend „Weltliteratur“ schuf. Beethoven zählt
schließlich zu den ganz, ganz wenigen Künstler, welche größten Ruhm bereits zu
Lebzeiten genossen und (!) noch heute genießen. Somit soll mit diesem Vergleich
keine Geringschätzung des Jüngeren verbunden sein - im Gegenteil! - Was fällt
sofort auf? Rein formal bleibt Schubert konservativer: Die klassische drei-
oder viersätzige äußere Form wird beibehalten, Beethoven geht hier viel freier
mit der Gattung ‚Sonate‘ um. Letzterer hatte 27 Jahre für seine 32 Sonaten,
Schubert waren nur 13 Jahre für seine 21 Sonaten vergönnt - doch bei beiden ist
eine intensive, deutliche Entwicklung unübersehbar. Die Zunahme, die
Verdichtung führt bei Beethoven tendenziell zu kürzeren Stücken, zur
Verdichtung des Tonsatzes - bei Schubert hingegen findet die Konzentration in
zeitlicher Ausdehnung (nur scheinbar ein Paradox) und harmonischer Kühnheit
ihren Ausdruck.
Abweichend vom Vorgehen beim
letztjährigen Beethovenmarathon erklingen die Werke diesmal nicht in
chronologischer Reihenfolge, sondern G. Zitterbart hat jedem aus der Klasse je
ein „junges“ und ein „altes“ Werk zugedacht, so daß das Publikum bei im Schnitt
vier Werken pro Konzert munter zwischen den Entwicklungsstufen Schuberts
hörenderweise hin- und herspringt. Wie geschrieben sind es ja nur 13 Jahre, in
denen sich dieses von Göttern begnadete Talent hat entfalten können; da sind
„jung/alt“ relative Kategorien, zumal es, freilich nur bei den Klaviersonaten,
eine Pause von 1819 bis 1823 gab.
Eine Interpretation aus einem
Guss kann es bei 11 Pianistinnen/Pianisten natürlich nicht geben; wie im Jahr
zuvor empfinde ich das als großen Gewinn, beleuchtet es so doch das Vielfältige
der Werke besser. Das Niveau ist angesichts verschiedener Studiengänge (von
künstlerisch-pädagogischer Ausbildung bis Soloklasse, zusätzlich zum
langjährigen Profi und Professor) verständlicherweise ebenfalls unterschiedlich,
doch tut dies der Freude am Hören ebenfalls keinen Abbruch. - Das einzig echte
Manko scheint mir der durchgängige Verzicht auf die von Schubert
vorgeschriebenen Wiederholungen des ersten Teils der Kopfsätze zu sein.
Sicherlich wird das Programm, so „gekürzt“, etwas „gefälliger“, doch diese
Musik braucht Zeit. Ihre Länge ist ganz wesentlicher Teil des Werks. Dies geht
so weit, dass in den Schlusssätzen der letzten vier, fünf Sonaten sich
angesichts der endlosen Themenwiederholungen ein unheimliches Gefühl einstellt.
Zwar ist die Musik so schön… jedoch das „Es wolle gar kein Ende haben!“ wird
immer mehr und mehr zu einem „Es solle gar kein Ende haben!“. - Als würde diese
Musik nichts mehr fürchten als:
Stille.
Immer ist etwas los, läuft
eine Achtelrepetition motorisch durchs Stimmengeflecht, ganz gleich ob in einem
langsamen oder schnellen Satz. Werden bei Wiederkehr der Themen zusätzliche
Rhythmisierungen angefügt, um den Tonsatz in Bewegung aufzulösen. Umso
verheerender, umso verstörender, wenn dann einmal doch Stille ist. Grausamer
als in den langsamen Sätzen von D 959 und 960 kann Pause in der Musik kaum
wirken. Bevor in D 959 diese Stille hereinbricht, ereignet sich einer der
brutalsten Ausbrüche, welche je in Töne gesetzt wurden. Gustav Mahler brauchte
dafür ein ganzes Orchester und vierzig Minuten Anlauf, doch lässt es nicht so
die Nackenhaare aufstellen, wie diese Takte tiefster Verzweiflung (von Zifan Ye
ganz eindrücklich gespielt). - Und dann? Dann kommt eine Stelle, wie nur
Schubert sie schreiben kann: 12 Takte, da ist das Paradies nix dagegen! So
unbeschreiblich schön, dass selbst die Steine zu weinen beginnen. (Dies gelang
in der Aufführung nicht gar so überzeugend wie der Ausbruch zuvor.) - Die
Schlusssätze, insbesondere der letzten sechs Sonaten, nehmen die Damen und
Herren der Klavierklasse i.a. tempomäßig recht sportlich, teils ein wenig ins
Virtuose überziehend, doch der Lehrer geht in D 960 ja selbst mit gutem
Beispiel voran.
Alles in allem wird Schubert
in diesem Zyklus jedoch erfreulich lebendig, frisch, munter angegangen. Man hat
schon Interpretation vernommen, wo jede halbe Achtel nach „Winterreise im
Quadrat“ klingt… Das muss und sollte nicht sein. Außerdem: Gerade eine nicht zu
larmoyante Lesart lässt die Abgründe umso tiefer scheinen. Kein Komponist kann
ein derart grausig-fahles Dur schreiben wie Schubert.
Harmonik ist überhaupt das
zentrale „Schlachtfeld“ dieser Musik. In äußerst kühnen Schritten werden bei
Schubert Tonräume durchmessen. Vom Mittel der Terzverwandtschaft macht er
freien Gebrauch; sehr oft weiß der aufmerksame Hörer gar nicht, wie ihm
geschieht bei all den Modulationen… Dazu setzt der Komponist Themenblöcke ganz
unverbunden nebeneinander, die auf den ersten, zweiten und dritten Blick nichts
miteinander gemein haben. Ab und an vermag ein Nachschlagen in den Noten zum
Verständnis helfen, vom seziermesserhaften Komponieren Beethovens kann hier
jedoch nicht die Rede sein. Eher assoziativ werden die Motive
aneinandergereiht. Weitere Überraschung: Themen sind Schubert eingefallen - das
hätte für zehn andere Komponistenleben ausgereicht! Oft genug jedoch sind diese
weitausschwingenden, gesanglichen Melodien in Wahrheit ziemlich engräumig
gesetzt – die Weite entsteht einzig und allein durch das sich unvorhersehbar ändernde
(harmonische) Fundament. Daher lassen sich auch einige der schönsten Stellen
alleine gar nicht nachsingen/-summen.
Das tiefe Glück einer solchen
Zyklusaufführung ist der intensive Blick, den man als Hörerin/Hörer in die
Klang- und Gedankenwelt eines Menschen werfen kann. Viel eindringlicher
nachzuvollziehen ist die Entwicklung, welche Schubert ging, wenn einem einmal
das Werk in so dichter Folge vor-gespielt wird. Sicherlich sind das nicht 21
Meisterwerke; die Sonaten ab D 784, d.i. ab dem Jahr 1823, spielen in einer
höheren Liga, interessante Entdeckung gibt es jedoch auch in den früheren
Stücken: Die H-Dur-Sonate dürfte eines der ungetrübt-fröhlichsten Werke
Schuberts sein, Xinzhu Lis Interpretation samt der anschließenden a-Moll-Sonate
(D 845) war der konzentrierteste „Block“ innerhalb der Reihe. - Die
f-Moll-Sonate D 505/625, wie gut die Hälfte der Werke uns zuvor unbekannt,
überrascht durch das Rastlose, ins Symphonische sich Weitende des
Klavierklangs. Beim Fragment C-Dur (1818) schließlich ist man sich als Hörer
nicht ganz sicher, was Schubert beim Schreiben genommen haben muss – derart
schräg sind die Brüche zwischen den Abschnitten, derart ausschweifend geht es
durch die Tonarten. Vielleicht deutet der Kompositionsabbruch darauf hin, dass
er selbst (in diesem Moment) nicht wusste, wie man diesen Weg
weitergehen kann. -
Die Fragmente wurden im Zyklus
übrigens genauso aufgeführt wie notiert, d.h. mitten im Satz hört die Musik
einfach auf. Persönlicher Favorit ist übrigens Nahyun Parks Darbietung der
Sonate G-Dur D 894 (1826) gewesen: Zwar wählt sie, wie die Mehrzahl der
Spielerinnen/Spieler statt des Flügels Anonymus von 1825 (Schuberts Musik
unendlich angemessener) den Bechstein-Flügel von 1890, doch vermag sie (wie
u.a. B. Li, Y.E. Kim und Y. Gu) unendlich zart mit diesem Brummer umzugehen - für den kleinen Clavier-Salon ist er eigentlich klangtechnisch zu wuchtig. Der
erste Satz dann ist bereits grandios gelungen, doch im letzten gelingt ihr im
Verbund mit Schubert das Zauberstück, die Zeit anzuhalten. ---
Es gebe noch vieles anderes
Gelungenes zu erwähnen… genug für heute. Zum Schluß Dank an die Aufführenden
für diese faszinierende Reise durch Schuberts Welt.
Bjørn Steinhoff
Göttinger Kulturkalender Juni 2019
Variatio delectat
„Kennst Du das Land, wo die
Zitronen blühn[?]“ Der Geheime Rat hätte diesbezüglich an diesem Tage in Weimar
bzw. Südniedersachse bleiben können. Zumindest was die Temperaturen betrifft.
Zu Konzertbeginn, um 19.45h, ist es, sagen wir, lauschig warm. Das Innere des
kleinen Clavier-Salons ist, auch ohne moderne Klimatechnik, erstaunlich
angenehm. Für innere Wärme werden indessen Programm und Interpretin sorgen.
Fünf sehr unterschiedliche Werke
von fünf Komponisten hat Maria Yulin, ehemalige Studentin bei Gerrit
Zitterbart, sich ausgesucht; aus dem Portfolio der möglichen Klaviere ist die
Wahl auf den Bechstein-Flügel von 1890 gefallen.
So unterschiedlich die Stile der
fünf Werke sind, ist es sicherlich sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, das
ideale Instrument zu finden. Programmhälfte Zwei, mit Ravel und Brahms, ist wie
gemacht für den weichen, vollen Klang des Bechsteins. Bei der ersten Hälfte
sieht es anders aus: Haydns Sonate wäre mit dem quecksilbrigen Klang eines
Hammerklaviers sicherlich besser bedient, zu Bartoks Sonate dürfte ein
Instrument mit deutlich ausgeprägterem perkussivem Charakter passen. Nur zu
Johann Sebastian Bach passt alles, was Tasten hat.
Abwechslung gefällt – zumindest,
wenn man, wie Maria Yulin, so mühelos zwischen den verschiedenen „Sprachen“ und
„Dialekten“ hin und herwechseln kann. Die Lesung aus dem „Alten Testament“ (v.
Bülow) mit Präludium & Fuge fis-Moll (BWV 883 / Wohltemperierte Klavier Bd.
II) bildet das Kernstück der drei Werke vor der Pause. Sehr kontrolliert, klar
und durchsichtig gestaltet Yulin besonders die dreistimmige Fuge. Allerdings
war ich beim Hören immer noch vom langsamen Satz der zuvor das Konzert
eröffnenden Haydn-Klaviersonate derart bezaubert, dass die Konzentration für
Bach ein wenig zu wünschen übrig ließ…
Béla Bartóks Sonate (1926, Sz.
80) lässt Ablenkung dagegen nicht zu: Schlagzeuggleich werden die Akkorde in
die Tasten gehämmert. Jeder der drei Sätze wird von einem je eigenen
durchgängigen Grundrhythmus getragen, die Taktarten wechseln dabei
munter-erratisch hin und her. Maria Yulin bringt das keineswegs aus der
Fassung, eisern setzt sie Betonungen, bringt das Motorische der Ecksätze
glänzend zur Geltung. Der dritte Satz könnte problemlos als Filmmusik zu
Chaplins „Modern Times“ dienen. So technisch-virtuos die Tempoverschärfungen
sind, so volksliedhaft-fröhlich der Schlusssatz sich gibt - Rastlosigkeit,
Unruhe, Hatz sind die die treffenden Subjektive zur Beschreibung. Die
Schlusssteigerungen der Ecksätze disponieren die Interpretin gekonnt,
verschießt ihr Pulver nicht zu früh. Und sie behält, obwohl die Musik anderes
nahelegt, schlussendlich die Kontrolle über die komponierte Explosion, welche
Bartók wohl im Sinne hatte. – Der schwere, langsame Satz erscheint in solcher
Umgebung umso düsterer. (Der Komponist hat diese Sonate für einen Imperial
Bösendörfer mit vollständiger Subkontraoktave geschrieben. Einige Töne im
zweiten Satz sind folglich auf einem „normal“ großen Flügel gar nicht
spielbar.)
Von Haydns Sonate As-Dur, Hob.
XVI:46, war schon kurz die Rede. Häufig im Konzert wird sie nicht gespielt, die
drei Sätze folgen dem erprobten Schema schnell-langsam-schnell. Das schließende
Presto, wie die Sitte es verlangt, ganz als heiterer, bewegter Kehraus
geplant, geschrieben und auch so vorzüglich gespielt. (Welch andere Motorik
jedoch, verglichen mit Bartóks Sonate!) – Was den Rezensenten aber so besonders
bezaubert, das ist der zweite Satz: Ein Adagio im 3/4-Takt, die linke
Hand beginnt alleine. Achtel über liegender Dreiviertelnote. Unspektakulär. Der
gute Haydn, am 31. Mai vor 210 Jahren gestorben, hat nun die einfache und
geniale Idee die letzte Achtel in Takt 1 & 2 durch Achtelanbindung zu
verlängern. Obwohl das Metrum, die Betonung scheinbar glasklar durch das ¾
vorgeschrieben sind, schwebt die Musik durch diese Überbindung in ganz leichter
Unschärfe durch Zeit und Raum. Maria Yulin trifft diesen Punkt perfekt!
Ganz unerwartet ergeben sich
außerdem so Berührungspunkte zu Maurice Ravels Une barque sur l‘ócean
(aus „Miroirs“, 1906). „Vom Pedal eingehüllt“ schreibt der Komponist über die
Noten, „in weichem Rhythmus“. Dabei sind der Noten so viele, dass man
Schwierigkeiten hat, beim Lesen zu folgen. Vom Spielen ganz zu schweigen. Das könnte
man als Bravourangeberstück in die Tasten hauen - Gott sei Dank tut Fr. Yulin
dies nicht. Das Gemälde in Tönen zaubert sie wundervoll raffiniert und elegant
in das Instrument. Die Klänge wechseln bruchlos ihre „Farbe“, mit unendlich
subtilen Übergängen. Wenn bei Bartók und Brahms der Flügel vielleicht noch
„lauter“ gespielt wurde – hier, mit diesem Werk, wirkt er am größten.
Wenig verwunderlich ist das Stück schon von Ravel selbst für Orchester gesetzt
worden – ein Klavier allein scheint für diese Fülle nicht zu genügen. Heute
Abend kommt dieser Gedanke nicht auf.
Zum Abschluss die zweite der drei
Klaviersonaten aus dem Schaffen Johannes Brahms. Das op.2, fis-Moll, entstand
1854. Gerade einmal 21 Jahre ist der junge Mann da; in die Zeit fällt auch die
Begegnung mit Clara und Robert Schumann. Der erste Satz beginnt wie ein
Klavierkonzert ohne Orchester. Nach dem Klangzauber der „Barque“ wirken die
Klangtürme des ersten Satzes auf mich ein wenig ‚gewollt‘. Aber da können weder
Komponist noch Interpreten etwas dafür. Erst das Scherzo sowie der largamente-Teil
im Finale der viersätzigen Sonate lenken die Konzentration wieder völlig auf
Brahms. Besonders die Einteilung der Kräfte, die Anläufe zu den Höhepunkten
überzeugen. Hier hat jemand mit sehr viel Übersicht die Darbietung der Sonate
geplant – und gespielt.
Allzu zu zahlreich war der
Publikumszuspruch leider nicht; desto kräftiger der Applaus. Dank dafür eine
bezaubernde Zugabe. Aus den Prélude op.11 von A.N. Skrjabin die Nr. 15, ein Lento
in Des-Dur. Großartige Nachtmusik, in aller Schlichtheit. Schönheit ohne alle
Kraft. Maria Yulin hatte ganz vergessen, den Titel zu nennen, so muss ich am
Konzertende mich erkundigen. Aber das macht gar nichts. Wenn man nicht weiß,
was kommt, ist die Freude am Gelungenen desto größer. - Für einen nächsten
Abend in Göttingen mit ihr vielleicht: Die gesamten „Miroirs“, Skrjabins op.11
und ein wenig Bach?
Aus dem Golf von Sorrent dringt
am späten Abend die Kunde in den Norden: 12°C weniger als in Südniedersachsen.
Zeit für einen Limoncello.
Bjørn Steinhoff