Presse 2023

Göttinger Kulturkalender Juni 2023

Beethoven mit großer Reife gespielt

Saskia Niehl und Ji Hwan Hong mit zwei Violinsonaten von Beethoven

Die „Violinsonaten“ von Ludwig van Beethoven sind für „Pianoforte und Violine“ geschrieben. Die Violine wird also keineswegs „nur“ begleitet, sondern beide Instrumente sind gleichberechtigt. So haben es Saskia Niehl (Violine) und Ji Hwan Hong (Klavier) auch aufgefasst. Im Clavier-Salon von Gerrit Zitterbart haben sie sich die Sonate A-Dur op. 47 (»Kreutzer-Sonate«) und die Sonate G-Dur op. 96 vorgenommen.

Die »Kreutzer-Sonate« gehört längst zum Repertoire einer Violinist:in. In der Entstehungszeit jedoch sprengte die Musik jeglichen Rahmen – wie die zur selben Zeit komponierte Sinfonie Nr. 3 »Eroica« ebenfalls. Die Sonate ist mit einer Dauer von 40 Minuten ungewöhnlich lang und in ihrer Virtuosität stellt sie hohe Ansprüche sowohl an die Violinstimme als auch an den Klavierpart.

Geschrieben hat Beethoven die Sonate für den 25jährigen George Bridgetower. Beethoven selbst war zu dem Zeitpunkt 33 Jahre alt und saß bei der Uraufführung selbst am Klavier. Erst zur Drucklegung des Werkes wurde die Sonate dem französischen Violinvirtuosen Rodolphe Kreutzer gewidmet.

Saskia Niehl und Ji Hwan Hong sind also ungefähr in demselben Alter wie die Künstler zur Uraufführung. Mit großem Ernst nahmen sie die Herausforderung an, das war schon in den ersten Takten deutlich, die zunächst nur der Violine vorbehalten sind. Weite Akkorde und dunkle Harmonien bestimmen den ersten Satz. Mit der milderen Stimmung des zweiten Satzes wurden auch die Mienen von Saskia Niehl und Ji Hwan Hong milder. An der Mimik der Spieler:innen wurde aber vor allem die intensive Auseinandersetzung der beiden mit der Musik deutlich. Und das hat der Wiedergabe ausgesprochen gut getan. Die berühmte »Kreutzer-Sonate« wurde schon extrovertierter gespielt, vermutlich vom Bridgetower selbst auch, wenn man den Berichten Glauben schenken darf.

Es ist aber der nach innen gekehrte Blick, der den Charakter dieser Musik trefflich beschreibt. Und so zeigen Niehl und Hong trotz ihres noch jungen Alters eine große Reife in der Wiedergabe.

Das tut auch der Sonate in G-Dur op. 96 gut. Sie ist fast zehn Jahre später entstanden als die Sonate op. 47. Diese Sonate ist deutlich kantabeler, vielleicht sogar etwas schlichter. Saskia Niehl und Ji Hwan Hong konnten in ihrer Interpretation die Feinheiten der Komposition hörbar machen. Gerade in den Variationsfolgen des letzten Satzes wird deutlich, wie gut die Violinistin und der Pianist aufeinander eingespielt sind: beide Instrumente stehen in einem ständigen Dialog, immer wieder werden Themen und Linien, aber auch Ausdruck und Dynamik an den oder die Partner:in übergeben.

So war der Abend im Clavier-Salon ein großer Genuss, den das Publikum entsprechend mit langanhaltendem Beifall belohnte.

Jens Wortmann


 Göttinger Kulturkalender März 2023

Das Instrument macht die Musik
 
Mit seinem Gesprächskonzert zur Klaviersonate As-Dur op. 110 von Ludwig van Beethoven gab Gerrit Zitterbart nicht nur einen tiefen Blick in das Schaffen Beethovens, sondern auch eine faszinierende Perspektive darauf, wie sehr die Musikinstrumente, auf denen ein Werk gespielt wird, Einfluss auf die Musik haben können.

Gesprächskonzert - Was bedeutet das? In diesem Zusammenhang handelte es sich um ein Konzert mit begleitendem, geschichtlichen Hintergrund, Erklärung und Analyse des Stückes und einen Einblick in die Mechanik von Klavieren, vorgetragen vom Pianisten selbst, Gerrit Zitterbart. Der Abend begann mit einer kurzen Einführung der Entwicklungsgeschichte des Klaviers am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, der Schaffenszeit Beethovens; wie die Mechaniken zweier Europäischer Instrumentenbauer-Schulen - der Englischen und der Österreichischen - zu deutlich unterschiedlichem Spielgefühl und Spieltechniken führte und wie Beethoven zuerst im Jahre 1803 in Kontakt mit einem ihm bis dahin unbekannten Modell der Englischen Schule kam und daraufhin erstmals andere Kompositionstechniken ausprobieren konnte. Vierzehn Jahre später erhielt er dann erneut die Gelegenheit, auf einem Englischen Flügel zu spielen und zu komponieren. Auf diesem Flügel entstand auch die As-Dur Klaviersonate op. 110. Besagtes Instrument besaß nicht nur englische Mechanik, sondern auch einen tieferen Ambitus, was die Sonate ebenfalls kompositorisch beeinflusste.
Nun spielte Gerrit Zitterbart die Sonate zum ersten Mal am Abend, zuerst auf einem englischen Squarepiano von John Broadwood & Sons von 1821, dem Jahr der Fertigstellung der Sonate. Der Klang des Klaviers war hell und kraftvoll, andererseits allerdings auch etwas schnarrend. Den klanglichen Charakteristika des Instruments geschuldet schien das Klavier einen nur begrenzten Umfang dynamischer Bandbreite zu besitzen, was die sanfteren Passagen beinahe nicht sanft genug werden ließ. Doch wie Herr Zitterbart anfangs erklärt hatte, war dies vermutlich Beethovens Intension. Es ging ihm darum, rohe Emotion und volles Ausschöpfen der musikalischen Möglichkeiten des Instruments auszukomponieren. 
Der ersten Darbietung der Sonate folgten eine Erklärung und Analyse des Stückes, gespielt auf einem Carl Bechstein Flügel aus Berlin von 1890 mit Englischer Mechanik. Bereits durch die ersten gespielten Noten wurde klar, wie sehr die Gegebenheiten des ausgewählten Instruments den Klang eines Stückes beeinflussen können. Der Klang war klarer, weniger schnarrend, und sanfter. Es war im Timbre deutlich zu hören, dass dies der Klang eines moderneren Flügels war. Auf diesem Instrument gab Gerrit Zitterbart nun einen analytischen Einblick in die Sonate. Er erklärte, wie das Quarten Thema des ersten Satzes sich im Fugenthema des letzten Satzes wiederspielte. Wie dieses Thema sich tatsächlich durch alle Sätze der Sonate zog. Nicht nur durch den ersten Satz mit seiner simplen, doch sehr effektiv eingesetzten, akkordischen Melodieführung und seiner vielfältigen Verwendung und Entwicklung von Ideen, sondern auch durch den zweiten Satz, das Scherzo, das von unkonventioneller Rhythmik geprägt war, den klagenden dritten Satz und wie es schließlich zum Fugenthema wurde. Und schließlich erklärte er, wie sich in den Höhen und Tiefen des vierten Satzes scheinbar Beethovens stetiger Kampf mit schweren Krankheiten widerzuspiegeln schien. Damit endete der erste Teil des Abends.
Der Pause folgte dann nach einer kurzen Darbietung des Einflusses der Sonate auf spätere Kompositionen - sowohl auf Beethovens eigene als auch auf die anderer Komponisten - die zweite Darbietung der Sonate, diesmal auf einem Wiener Flügel aus unbekannter Manufaktur von 1825. Und abermals wurde deutlich, wie sehr das Instrument den Klang eines Stückes beeinflussen konnte. Der Klang war nuancierter und sanfter, der dynamische Ambitus größer, die Basstöne voller und die sanften Passagen emotional geladener. Des Weiteren war die klangliche Transparenz vor allem in der Fuge des letzten Satzes deutlich höher, was die einzelnen Stimmen der Fuge deutlicher hervortreten ließ und dadurch ein gänzliches klangliches Erlebnis bildete.
Rundum bildete das Konzert nicht nur einen spannenden geschichtlichen Einblick in das Schaffen Beethovens, sondern auch eine faszinierende Lektion über die Welt der Klaviermechanik.
Sophie Schultze

Göttinger Kulturkalender Februar 2023

Musik mit allen Sinnen

 
Im Clavier-Salon Göttingen lädt Gerrit Zitterbart immer wieder junge Künstler:innen zu Konzerten ein. Dabei sind regelmäßig auch Kammermusikensembles. So war jetzt das international besetzte Nerida Quartett zu Gast.
Ein moderner Konzertflügel hat etwas 230 Saiten für die 88 Töne. „Heute Abend können wir hören, dass man auch mit 16 Saiten schöne Musik machen kann“, gibt Gastgeber Gerrit Zitterbart zur Begrüßung augenzwinkernd zum Besten. Diese 16 Saiten verteilen sich an diesem Abend auf die Violinen von Saskia Niehl und Nevena Tochev, auf die Viola von Grace Leehan und das Cello von Alma Tedde. Die vier jungen Damen über Schule und Hochschule kennengelernt und haben das Nerida Streichquartett gegründet. Nach der Gründung im Jahr 2018 gab es im letzten Jahr an der Viola den Wechsel zu Grace Leehan. Saskia Niehl (Jahrgang 1996) studierte Violine in Freiburg und Berlin und zurzeit in Hannover in der Soloklasse Geige. Parallel ist sie an der Georg-August-Universität für Sinologie eingeschrieben – ist aber natürlich weiterhin musikalisch aktiv.
Auf dem Programm stand Musik von Joseph Haydn, Carl Nielsen und Felix Mendelssohn Bartholdy. Joseph Haydn (1732-1809) komponierte über 70 Streichquartette, mit denen er diese wichtigste Gattung der Kammermusik gleichsam begründet hat. Mit dem sogenannte „Reiterquartett“ aus dem Opus 74 starteten die vier jungen Musikerinnen in den Abend - und zeigten sofort ihr großes musikalisches Können. Von der typischen Leichtigkeit der Musik Haydns ist hier nur noch wenig zu spüren, diese 1793 entstandenen Quartette zeigen eher symphonische Züge, die Musik klingt schon fast romantisch. Zugleich gibt der Komponist aber den Interpreten Raum zur Entfaltung. Vor allem die erste Geige mit Saskia Niehl kann im wunderschönen Largo ihr großes Können an Ausdruck und Technik beweisen. Ihre Kolleginnen an den anderen Pulten stehen ihr um nichts nach.
Geblieben ist in dieser Musik Haydns Vorliebe zu Überraschungen: unerwartete Tonartwechsel, Modulationen und Wechsel der Klangfarben, Dissonanzen sind immer wieder zu hören.
Dieses Überraschungsmoment findet sich auch in der Musik von Carl Nielsen (1862-1918) wieder. Der dänische Komponist ist eher für seine Lieder und für die sechs Sinfonien bekannt. Aber zu seinem Werk gehören auch vier Streichquartette, von denen das vierte in F-Dur op. 44 auf dem Konzertabend des Nerida-Quartetts stand. „Wir müssen sehen, dass wir von den Tonarten wegkommen“, wird Nielsen zitiert. Davon hat er in diesem Quartett reichen Gebrauch gemacht. Daher klinge diese Musik „bisweilen etwas seltsam“, wie Saskia Niehl zur Einführung anmerkte. Wenn aber diese Tonartwechsel oder Tonart-Auflösungen sowie die vielen anderen Überraschungsmomente derart überzeugend gespielt werden, wirkt die Musik überhaupt nicht „seltsam“, sondern vielmehr leicht, entspannt und beschwingt. Hier atmet haydnscher Geist, fast mehr als in Haydns spätem Quartett. 
Zum Abschluss erklingt das Streichquartett Nr. 3 D-Dur op. 44 Nr. 1 von Felix Mendelssohn Bartholdy (1862­-1847). Dieses 1838 entstandene Werk ist eigentlich ein verkapptes Violinkonzert. Im ersten und im Trio des Menuetts dominiert eindeutig die erste Violine. Bescheiden moderierte Saskia Niehl das Stück an: „Wir mögen vom heutigen Programm vor allem den dritten Satz dieses Streichquartetts. Denn hier trete die zweite Violine in den Vordergrund“. In der Tat, das tut sie, und Nevena Tochev gestaltete ihren Part im Andante expressivo wunderbar elegisch.
Beachtenswert im Zusammenspiel aller vier Musikerinnen ist das Zusammenspiel. Es ist perfekt aufeinander abgestimmt, immer wieder werden Themen und Einsätze an die Kollegin übergeben - und immer wieder huscht ein lächelnder Blick von einer zur anderen. Es ist schön, dass der intime Raum des Clavier-Salons die Möglichkeit gibt, die Musik mit allen Sinnen zu erfahren.
Jens Wortmann

Göttinger Kulturkalender Januar 2023

Entdeckungen mit kleinen Schätzen

Kompositionen von Ludwig van Beethoven waren bislang eine Rarität in den traditionellen Neujahrskonzerten von Gerrit Zitterbart. Anders verhält es sich mit ebenso bewegenden Stimmungsbildern von Franz Schubert, die am Abend nach der Silvesternacht immer wieder zum kontemplativen Innehalten einladen.
Diesmal wollte Zitterbart das musikalische Jahr 2023 mit zwei seiner Lieblingskomponisten begrüßen und mit ihnen aus einem musikalischen Fundus schöpfen, wie er in Konzerten nur selten anklingt. Ebenso gern schöpft der Göttinger Pianist dabei wie ein Musikforscher aus historischen Quellen und Anmerkungen. Sie ranken sich eben auch um die vielen kleinen Schätze, die Beethoven und Schubert neben den bekannten großen Werken hinterlassen haben.
Schon zum Auftakt mit Beethovens »Andante grazioso con moto« kündigt der Musiker eine „ganz spezielle Geschichte“ an, bei der der Komponist einen ursprünglich sehr ausgedehnten langsamen Satz aus einer Klaviersonate herausgestrichen habe. Wiederum entzückte der musikalische Gast bei Gesellschaften sein Wiener Publikum mit diesem Andante, das den Zusatz „Favori“ bekam, weil es immer wieder gewünscht wurde und nun seine heiter beschwingende Wirkung im Fluss der melodischen Fantasien im Clavier-Salon entfaltet.
Das vermögen auch die musikalischen Notizen, die dann viele Jahr später der fast ertaubte Wiener Maestro als Zufallstücke betrachtete und zu „Bagatellen“ erklärte. Bei den ersten drei an diesem Neujahrsabend handelt es sich um freundschaftliche Widmungen, die Beethoven wie kleine Portraitskizzen für Gäste, Freunde und Weggefährten entworfen hatte, die jetzt kurzweilig erfrischen im Clavier-Salon anklingen. 
Zitterbart macht auch bei der Sammlung von Bagatellen op. 126 hellhörig für den Ideenreichtum des Komponisten, der weiter pulsierte nur eben anders als 15 Jahre zuvor, als sein Gehör ihm den Kontakt zur Außenwelt noch nicht verweigerte. Ein Thema wird angespielt, wieder verworfen oder mit einem neuen Thema kontrastiert. Es gibt impulsive Übergänge zwischen dramatisch expressiven Passagen und zarten Klangfiguren und melodischen Fantasien. Zitterbart merkt an, dass ihnen das Gefühl von Sonatenkomplexität und die Stringenz in der Entwicklung fehle, um dann an seinem historischen Wiener Flügel mit den Bagatellen aus einen faszinierend vielfarbigen Klangpanorama zu schöpfen. Das »Andante con moto« wird zur anmutigen Momentaufnahme, geprägt von feinsinnigen musikalischen Reflektionen, die einfach austreiben dürfen. Ein weiteres Andante nimmt den Charakter einer Elegie an, ohne dass sich der tragische Tenor vertiefen muss. Bei Beethovens »Presto« überrascht dann nach dem dramatischen Aufruhr an Akkorden unmittelbar ein heiterer Galopp, während die E-Dur-Bagatelle (nämlich der erste Satz der Klaviersonate op.109) wie eine Einladung für zwei melodische Stimmen klingt, die eine Zeit miteinander verbringen und sich dabei für Momente wie Echostimmen begegnen.
Aus Franz Schuberts Todesjahr stammen die drei Preziosen, die Gerrit Zitterbart anstelle der vertrauten Impromptus seinem Publikum zum musikalischen Neujahr im Clavier-Salon entdecken wollte. Wieder erfolgt der Hinweis auf den disparaten Charakter der Stücke und die fehlende Stringenz, was ähnlich wie bei Beethoven auf spontan und impulsiv kontrastierende Klangskizzen deutet, die in diesen nachgelassenen Klavierstücken ihre faszinierende Wirkung entfalten. 
Wieder ist es ein Aufruhr unterschiedlichster Klangfarben und Stimmungen, die enthusiastisch ausschwärmen, um dann in kontemplativen Regionen zu verweilen und erneut auszuschwärmen. Ein meditatives Andante kann mit harmonischen Wohlklängen verschmelzen und eine unerwartet feierliche Stimmung heraufbeschwören und die dramatische Emphase unmittelbar in eines dieser Klangbilder einfließen, mit denen Schubert seine tragischen Sehnsuchtsträume musikalisch verwebte. 
Es ist eine besondere, in manchen Momenten fast verzweifelt anmutende Aufbruchstimmung, die sich in den nachgelassenen Klavierstücken entlädt und darin auch mit Beethoven korrespondiert. Beide Komponisten skizzierten und imaginierten unter erschwerten Bedingungen und improvisierten dennoch weiter mit Mut und Leidenschaft über ihre musikalischen Fantasien und mit der Aussicht auf einen weiterhin unerschöpflichen Klanghorizont. Diese Aussicht teilt Gerrit Zitterbart im Bündnis mit zwei seiner Lieblingskomponisten für ein weiteres musikalisches Jahr, bei dem zum Auftakt statt der Meisterwerke die kleinen Preziosen funkeln.
Tina Fibiger